Flug 4U9525 im Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Allgemeinschutz

Freie Arztwahl und Ärztliche Schweigepflicht oder Allgemeinschutz: was hat Vorrang?

Einleitung:

Zu dem Artikel in der Welt am Sonntag vom 31.05.2015 http://www.welt.de/wirtschaft/article141691808/EU-draengt-Deutschland-zu-besseren-Piloten-Checks.html

Die Katastrophe vom 24. März 2015 sollte zu Nachdenken darüber veranlassen, ob das System arbeitsmedizinischer Untersuchungen verbesserungsbedürftig ist. Denn das zutage getretene Risiko einer die Allgemeinheit gefährdenden Berufsausübung Kranker trifft nicht nur Piloten von Großflugzeugen

Arbeitsmedizin steht im Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Allgemeinschutz. Die Prinzipien der freien Arztwahl und der ärztlichen Schweigepflicht erscheinen zunächst unverrückbar. Zwar dürfen arbeitsmedizinische Untersuchungen nur von Fachärzten der Arbeitsmedizin oder Ärzten mit der Zusatzqualifikation „Betriebsmedizin“ durchgeführt werden. Zwar hat der Arbeitgeber für angemessene arbeitsmedizinische Vorsorge zu sorgen und mit der Durchführung vorranging den Betriebsarzt zu beauftragen. Nach der arbeitsrechtlichen Literatur hindert dies den Arbeitnehmer aber nicht, sich einen anderen Arzt auszusuchen, der seine eigenen Untersuchungen durchführt.

Speziell: Flugmedizin

Die Tauglichkeitsanforderungen für Piloten sind u. a. in der Verordnung Nr. 1178/2011 der Europäischen Kommission (Amtsblatt L 311/1) geregelt. Sie regelt (zusammengefasst), dass die medizinische Tauglichkeit eines Piloten durch flugmedizinische Zentren oder Sachverständige festzustellen ist. Es sind dies die gemeinhin als „Fliegerärzte“ bezeichneten Mediziner mit besonderer Qualifikation. Diese können Tauglichkeitszeugnisse ausstellen, verweigern oder einschränken, wobei (Anhang IV MED.B.055) psychiatrische Erkrankungen, Behinderungen, Abweichungen oder Störungen die Tauglichkeit – ggf. für Zeiträume – verneinen oder ganz ausschließen lassen.

Letztlich zuständig für die Beurteilung ist das Luftfahrtbundesamt als nationale Genehmigungsbehörde. An dieses sind nach § § 21 der lle Berichte der Flugmediziner, im Zusammenhang mit Tauglichkeitsuntersuchungen, zu melden.

Allerdings hat dies in „pseudonymisierter“ Form zu erfolgen, so dass eine Zuordnung der Berichte zu dem untersuchten Bewerber nicht möglich ist. Auch dem Arbeitgeber des Piloten gegenüber dürfen Flugmediziner Diagnosen oder Beschränkungen ohne ausdrückliche Einwilligung des Piloten nicht mitteilen. Im Gegenteil: Anhang IV MED.A 015 der genannten Verordnung stellt ausdrücklich die ärztliche Schweigepflicht an die erste Stelle.

Das Problem

Wenn also mit einem Piloten medizinisch etwas nicht in Ordnung ist, erhält er kein Tauglichkeitszeugnis oder eines mit einem SIC-Vermerk versehenes. Das bedeutet dann aber nichts anderes als ein Hinweis darauf, dass besonders regelhafte medizinische Untersuchungen erforderlich sind. (SIC = Spezific Medical Examinations).

Konkret konnte man bei Germanwings also selbst aus dem SIC-Vermerk auf dem Tauglichkeitszeugnis nichts von einer andauernden psychischen Erkrankungen des Copiloten herleiten; tauglich ist tauglich. Und dass der Copilot (wie bekannt) sechs Jahre vor der Katastrophe an Depressionen litt, musste 2015 die Tauglichkeit nicht zwingend einschränken oder aufheben. So sieht es der Anhang IV. zur Verordnung 1178/2011 der EU-Kommission ausdrücklich vor.

Was also, wenn ein Pilot psychische Erkrankungen bei den regelmäßigen medizinischen Checks verschweigt oder geschickt überspielt? Dann kommt der Fliegerarzt überhaupt nicht auf die Idee einer dementsprechenden Erkrankung – anders als z. B. bei objektivierbaren körperlichen Beeinträchtigungen wie zu hohen Blutwerten oder zu hohem Blutdruck.

Mehr noch: Was ist, wenn ein Pilot mit psychischen Erkrankungen einen Facharzt für Psychiatrie aufsucht, der mit der flugmedizinischen Untersuchung nichts zu tun hat? Gut eingestellt, macht der Pilot dann nach außen den Eindruck eines vollständig Gesunden, möglicherweise kann der Fliegerarzt nicht einmal Reststoffe von Medikamenten im Blut nachweisen. Der Fliegerarzt erteilt dann ein uneingeschränktes Tauglichkeitszeugnis – und niemand merkt, dass ein Pilot fliegt, der psychisch krank aber gut eingestellt ist.

Denn ebenso wenig wie es ohne Zustimmung des Arbeitnehmers eine Information des Arbeitgebers durch den Betriebsarzt über spezifische Erkrankungen geben darf, meldet der Fliegerarzt die Ergebnisse seiner Untersuchungen in individualisierter Form an das Luftfahrtbundesamt und schlimmer noch: Sucht der Pilot einen Arzt auf und lässt sich von diesem behandeln, der mit der fliegerärztlichen Untersuchung nichts zu tun hat, kann schon aus diesem Grunde nicht einmal eine pseudonymisierte Information an das Luftfahrtbundesamt erfolgen.

Folgen, Forderungen:

Das deutsche System, bei dem die ärztliche Schweigepflicht und die freie Arztwahl Vorrang vor der Sicherheit eines Massentransportmittels haben, ist dringend refombedürftig, wie die Germanwings-Katastrophe zeigt. Weiter ist das Luftfahrtbundesamt sachlich und personell so auszustatten, dass es seine Aufgaben wahrnehmen kann.

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